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Transit-Architekturen

Ausstellung des Kunstvereins Reutlingen Hans Thoma-Gesellschaft im Städtischen Kunstmuseum Spendhaus Reutlingen

Clemens Ottnad

„Transit – Architekturen“ benennt die Stuttgarter Künstlerin Sabine K. Braun ihre Ausstellung, die der Kunstverein Reutlingen heute hier im Spendhaus eröffnet. Und schon im weiteren Vorfeld dieses Ausstellungsprojektes zeichnete sich bei Interessierten ab, wie treffend wohl die bildkünstlerische Arbeit, Vorgehensweise und Zielsetzung der Künstlerin mit dieser Betitelung zusammenfallen müsse. Angesichts des Jahresprogrammes des Kunstvereins, in dem ja (seit Januar aushängend oder verschickt) der Ausschnitt einer Arbeit von Sabine Braun abgebildet ist, kreisten immer wieder Fragen von Besuchern um eben dieses Objekt und nachfolgend dessen Urheberin: „Aus welchem Material ist denn das gemacht, Holz, Metall und mit welchen technischen Mitteln?“, auf die inhaltliche Ebene bezogen: „Handelt es sich da etwa um ein naturkundliches Fundstück oder ist es ein irgendwie gebauter Apparat, die Natur gewissermaßen nach-erfunden, aber wozu dient er dann bloß?“. Es rankten sich Überlegungen zu den Dimensionen des abgelichteten Objektes, die in individuell unterschiedlicher Erwartung zwischen Ausmaßen fossiler Kleinstwesen und gigantischer UFO-Gefährte schwankten.

Vor den Originalen wird allerdings schnell deutlich, dass hier nicht irgendwelche unidentified flying objects nachgebildet erscheinen, die parawissenschaftlicher Forschungsdrang und kindlich-naiver Abenteuerlust entsprungen sind. Erweiterte man andererseits die in diesem Bereich einschlägige Begrifflichkeit des Science-Fiction als Verbindungen naturwissenschaftlichen Gewussten, durch die sichtbare Wirklichkeit Vorgeprägtem mit darüber hinaus gehenden Erfindungen zwischen Vorzeitlichem wie Vorausgeschauten, fände man sich in einer Offenheit der Wahrnehmung wieder, die der Arbeit Sabine Brauns durchaus nahe steht. „Transit“ bezeichnete in diesem Fall tatsächlich Übergange zeitlicher wie räumlicher Kategorien, Durchgänge (als Durchschreiten) von Orten und Phasen (inklusive der Überschreitung fachlich disziplinärer Grenzen). Unversehens scheint sich der Betrachter der Arbeiten von Sabine Braun also doch vor Artefakten wiederzufinden, Fundstücken und Apparaturen von Reisen mit einer Zeitmaschine, Bewegungen einer Art Raum-Fliegens (der Vorstellungskraft), in denen die Maßstäblichkeit der Wirklichkeit und des eigenen Seins verschwimmen bis verschwinden.

Einer bloß auf artifizielle Technizität gezirkelten Apparatik steht die Papierleichte und der sehr gewöhnliche Alltagswert des von der Künstlerin verwendeten Materials, nämlich kaschierten Packpapiers, entgegen. In kleinsten tektonischen Einheiten, Zellstrukturen und umfangreicheren Modulen entwickelt sie – Anmutung naturhaft-biologischen Wachstums – ihre Vorstellungsarchitekturen und mechanischen Organismen in unentwegten, meditativ-konstruktiven Arbeitsprozessen. Ohne Anfangs- und Endpunkt des verborgenen Tuns preiszugeben, sind wir mit der Ganzform, Großformen konfrontiert, dem hochkomplexen Wabenbau, etwa von Bienen gleich, deren baumeisterliche, äußerlich sichtbare Leistung wir zwar entomologisch zu erläutern vermögen, deren innere Strukturen und Funktionsweisen eines als vollkommen natürlich vorgegebenen und einzuhaltenden Lebenskreislauf wir kaum begreifen. Ähnlich den allseits aus der Zoologie und anderen Disziplinen bekannten Versuchsanordnungen, die durch einen Schnitt oder mittels einer Glaskastenperspektive versuchen, dem geheimen Innenleben von Naturwesen teilhaftig zu werden, berichten auch Sabine Brauns Objekte, Nachforschungen von Unbekannt-Bekanntem. Urformen, Kugeln, Ei-Ovale, Kegel, Scheiben, setzen sich aus kleinsten Einheiten zusammen, verzweigen sich, wachsen, wuchern, schließen sich zu neuen Organkomplexen zusammen. Meist einer irgendwie gearteten Außenhaut und Hülle entledigt ist der Blick freigegeben auf das Innengerüst, das Skelett der Form.

Das Begreifen bzw. die in der Vorstellung zwangsläufig verlaufende Vervollständigung der Modellform unterliegt aber mehrfachen Irritationen: Beim visuellen Abgleich mit dem ergänzend Vorgestellten überlagern sich die Strukturen, Lichtbrechungen, Schattenbilder, verschichtete Gitternetze, Konkav- und Konvexformen wölben sich ein und sind nach außen gestülpt. Das Auge versucht dem grafischen Verlauf der Formvernetzung zu folgen, verliert sich in der Komplexität des in Strukturen aufgebrochenen Gebildes, findet neue Ansatzpunkte, korrigiert sich zu plausibel erscheinenden Erfahrungswerten aus der sichtbaren Wirklichkeit und erliegt letztendlich doch dem konkret bemessenen Faszinosum des Ungeklärtem, der Utopie des Tatsächlichen.

Nicht als bloß solitäre Artefakte isoliert setzt Sabine Braun mehrere dieser Baukörper in Beziehung zueinander, überprüft, wie sich Bauformen gegenseitig beeinflussen, die Wahrnehmung von Dimension und Proportionen sich verändert, Licht- und Schattenverhältnisse wechseln. Dieserart entwickelt die Künstlerin aus einzelnen Tubularien – wie sie als turmartige Bodenobjekte etwa in der Ausstellung des Kunstvereins „11 Positionen Arbeiten mit Papier“ vor drei Jahren zu sehen waren – ganze Röhrensysteme. Im Kleinen mag das Papiergeäder modellhaft Einblick in Arteriengänge, Gefäßwände, Zellgebilde vorstellen, im Großen lässt sich das untertonige Brummen von Laufbändern vernehmen, die – in eine hochkomplexe Infrastruktur z. B. eines Flughafens eingebunden – Terminals und Gateways miteinander verbinden. In beiden Sichtweisen, Wahrnehmungsanalogien werden Rückschlüsse auf Organismen gezogen, die den Zoom-Faktor mikroskopischer Einblicke oder umgekehrt die Gesamtschau eines im Maßstab verkleinerten zyklopischen Modells offenlässt.

Architekturen sind sie insoweit, als sie „gebaute“ Ideenentwürfe wiedergeben, wie auch menschliche Körperbildung Architektur bedeuten kann. Trage- und Haltekonstruktionen, Gelenke, Widerlager erscheinen – erdacht in Papier Verdichtung flüchtigen Materials, wie es die Haut des Menschen selbst ist – stellvertretend für andere Umhäutungen in der Eigenschaft als Gewebe, Bedeckung oder anderer als massiv imaginierter Baustoffe. Über Stützpfeiler sind Brückenbögen gespannt, bilden das mechanisch-tektonische Gerüst, ein Skelett, über das sich eine weich-zerfließend scheinende Zeltmembran legt. Konkrete technische Konstruktion und biomorphe Komponenten verschmelzen. – Überhaupt erstaunt, was hier alles in einer Hand, vielmehr in Kopf und Händen der Künstlerin als „Baumeisterin“ liegt, bedenkt man die heute gebräuchliche Aufgaben- und Arbeitsteilung des realen Baugewerbes. Entgegen aller Outsourcing-Methoden folgt hier auf Forschung, Formanalyse, Erfindergeist die minutiöse Planung des Vorhabens, kleinste Bauelemente werden aus Rohmaterial, dem Urstoff Papier, selbstgefertigt, die Baugruppen zusammengeführt, trotz unterschiedlichster Anforderungen jeglicher Materialmix unterbunden, und die Gesamtkonstruktion wird bis zur Übergabe (in die Ausstellung, in private oder museale Sammlungen) betreut und überwacht. Noch darüber hinaus sorgt die Künstlerin, die Erfinderin, für die Werthaltigkeit ihrer Arbeiten – in anderen Bereichen wird das wohl Qualitätsmanagement genannt -, indem sie konservatorische und klimatechnische Aspekte der jeweiligen Bestimmungsorte berücksichtigt. (In eigens auf Ausstellungsarchitektur und -Situation zugeschnittenen Konzepten reagiert sie selbst auf den Ort der Präsentation immer wieder neu, wie auch hier im Spendhaus leicht festzustellen ist.)

Zieht man aber das Vorgenannte in Betracht, sozusagen die Schöpfungsgeschichte des einzelnen Objektes, so stellt sich – in einer Umgebung ansonsten streng funktionsgebundener Apparatik sowie der relativen Vergänglichkeit des Werkstoffes Papier – umso mehr die große Faszination ein, die von Sabine Brauns Arbeiten ausgehen, Verwunderung, Irritationen, vielleicht auch Verstörung inbegriffen. Rätselhafte Gefäße unbekannten Inhaltes sind hier zu sehen, Antennen, die weit ausgestreckt, bereitstehen, um Signale zu empfangen, Empfangsapparate, um Wahrnehmungsimpulse aufzunehmen, ohne ihr Innenleben und Funktionieren offenbaren zu wollen. Ein eigenes Universum erscheint also geschaffen, das den Welt-Raum als Welt-Alles, Weltganzes, in seiner vierdimensionalen Raum-Zeit-Erstreckung zu formulieren sucht.

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