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Empfindungsmodelle

Dr. Jörg Becker, 2000

Als der Naturforscher Ernst Haeckel vor hundert Jahren seine Abhandlung „Kunstformen der Natur“ veröffentlichte, hatten die in seinem Buch enthaltenen Abbildungen eine ähnlich große Wirkung auf die Künstler seiner Zeit wie die darin aufgestellten Thesen. Haeckel suchte in seiner Publikation nach symmetrischen Strukturprinzipien, gewissermaßen dem ästhetischen Bauplan, der den organischen Lebewesen zugrunde liegt. In seiner kunstvoll illustrierten Zusammenstellung finden sich gewisse Parallelen zu den Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance und des Barock, denn diese entstanden aus der Vorstellung heraus, dass die „Ordnung der Dinge“ durch Sammeln ermittelt werden könne. Dementsprechend vereinten die Kunst- und Naturalienkabinette Kunstwerke und Naturobjekte mit technischen Meisterstücken, darunter Automaten, Uhrwerke und mechanische Instrumente jeder Art.

Manche der plastischen Objekte der Stuttgarter Künstlerin Sabine k Braun wirken wie solche aus Papier geformten Kuriositäten. Ihre „Trichter“ beispielsweise erinnern an das Gerippe versteinerter Schnecken, das durch den Verlust des Kalkmantels sichtbar geworden ist. Andere Objekte würden aufgrund ihrer radialsymmetrischen Form sicher das besondere Interesse Ernst Haeckels geweckt haben, der sich speziell der Erforschung von Radiolarien und Medusen widmete. Das Formenvokabular von Sabine K: Braun beschränkt sich jedoch nicht nur auf naturhaft anmutende Strukturen, sondern zeigt mannigfaltige Übergänge zwischen organischen, technoiden und architektonischen Strukturen. Letztere stehen sogar am Anfang ihrer künstlerischen Entwicklung. Die „Apparat“ betitelten Arbeiten aus den Jahren 1989 und 1990 bedienen sich noch weitgehend der weißen Fläche der Wand als offenem Hintergrund, vor dem sie sich teils flächig, teils plastisch abheben und dadurch den Eindruck schwebender Architekturen oder technischer Konstruktionen erwecken. Für die Arbeit gleichen Titels aus dem Jahr 1994 hat die Künstlerin bereits kaschiertes Papier verwendet, um räumlicher wirkende Strukturen herstellen zu können. Aus kleinteiligen Rasterelementen fertigt sie seitdem in langwierigen Arbeitsprozessen auch vollplastische Arbeiten wie den großen „Trichter“. Die einzelnen, sich stets gleichenden Rasterelemente übernehmen eine ähnliche Aufgabe wie Zellen innerhalb eines organischen Gewebes oder Module moderner technischer Trägersysteme wie wir sie aus der Luftschiffahrt, aber auch von architektonischen Leichtbauelementen her kennen. Die Rasterelemente lassen jedoch bewusst ihre handwerkliche Fertigung erkennen. Die fast meditative Versenkung der Künstlerin in den mechanisierten Herstellungsvorgang bringt die Erfahrung eines zeitlichen Fortschreitens mit sich, welches sich auch an der Gestalt ihrer Konstruktionen ablesen lässt. Nicht nur die Jeweils hervorgebrachte Form, sondern auch der Arbeitsprozess, der Sabine K: Braun zu dieser Form hinführt, ist Bestandteil ihrer künstlerischen Konzeption.
Ein weiteres Merkmal neben dem fließen den Übergang zwischen den Vorstellungsbereichen Natur, Technik und Architektur ist der mitunter abrupte Wechsel zwischen zwei Wahrnehmungsmöglichkeiten, welchen die Arbeiten von Sabine K: Braun provozieren. Dies macht der bereits erwähnte „Trichter“ deutlich, bei dem die in einer Fotografie von Volker Naumann festgehaltenen Innenansicht kaum auf das äußere Erscheinungsbild des Objekts schließen lässt – und umgekehrt. Ähnlich verhält es sich bei der „Wandarbeit“ aus diesem Jahr. Hier ändert sich je nach Standpunkt der Eindruck so stark, dass einmal das Ausgreifen der fragilen Elemente in den Raum in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, ein anderes mal die flächige Anordnung der linearen Strukturen den Anschein erweckt, wir hätten es mit einem nach links fluchtenden Raum zu tun. Obwohl es sich bei dieser Arbeit um eine durch und durch technische Konstruktion handelt, gemahnt die Empfindlichkeit des Objekts an das Zerbrechliche und Vergängliche organischer Gebilde. Diese Beobachtung lässt sich auch an weiteren Objekten festmachen, die mit hervorstehenden Elementen bestückt sind. Manchmal glaubt man Tentakel oder Fühler, manchmal eher Antennen oder Verbindungselemente zu erkennen. Diese Werkteile machen auf eine hier thematisierte Verwandtschaft der Begriffe „empfindlich“ und „Empfindung“ aufmerksam. So wie der hochempfindliche Fühler eines Insekts ein zur Wahrnehmung äußerer Reize ausgebildetes Sinnesorgan ist, dienst das technische Instrument der Antenne der Übertragung wellenförmig ausgesandter Signale. Insofern erweist sich das jeweilige Objekt, unabhängig von seiner eher technisch oder eher organisch anmutenden Erscheinungsweise dank dieser gewissermaßen „sensorischen“ Komponenten als ein rudimentärer Kommunikation befähigter, dadurch jedoch besonders fragiler Körper. Die kleineren Werkstücke nennt Sabine K: Braun in der Regel „Bozetto“. Unter einem Bozetto versteht man eine kleinformatige Studie für ein bildhauerisches Werk. Man kann sich diese Kleinplastiken zwar sehr gut in vergrößertem Maßstab vorstellen, die Umsetzung würde jedoch die Verwendung eines anderen Materials erfordern. Aber es geht der Künstlerin nicht um das Erreichen einer endgültigen plastischen Form, sondern ganz im Gegenteil um die Idee der Vorläufigkeit, die sowohl aus dem Konzept des Bozettos herrührt als auch ein durchgängiges Merkmal ihrer Plastiken ist. Selbst der „Trichter“ erweist sich als ein fast beliebig durch gleichartige Rasterelemente erweiterbares und damit als unvollendetes und unvollendbares Gebilde. So tritt letztendlich das Formgesetz der Symmetrie, das Ernst Haeckel in Erscheinungen der Natur wie der Kunst zu erkennen glaubte, gegenüber der Idee eines Organismus, der sich prozeßhaft entwickelt und dabei Fähigkeiten des Fühlens und des Kommunizierens ausbildet, in den Hintergrund. In der Variabilität der Wahrnehmungs – und Betrachtungsmöglichkeiten fordern uns die Arbeiten von Sabine K: Braun heraus, nach unserer eigenen Befähigung zur Verständigung und Interaktion mit Kunstwerken zu forschen.

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